Ich habe mittlerweile eine ganze Menge Leben hinter mir und habe oftmals bemerkt, dass etwas mit mir „anders“ ist. Ich konnte das nicht zuordnen. Seit ich denken kann, sind mir immer wieder ähnliche Dinge passiert, die ich als „das ist halt so“ hingenommen habe.
Im Zuge meiner Coaching-Ausbildung ist dann irgendwann der Zeitpunkt gekommen, an dem ich über das Thema Hochsensibilität gestolpert bin und sofort wusste, dass ich zu der gar nicht mal so kleinen Gruppe von Menschen mit Hochsensibilität gehöre, immerhin machen wir einen Anteil von 15 bis 20 % der Gesamtbevölkerung aus. Ich möchte dich in diesem Artikel mitnehmen auf meine ganz subjektive Reise durch Stationen meines Lebens, die mich dahin geführt haben, wo ich jetzt bin und die noch lange nicht beendet ist.
Je tiefer ich in das Thema eingetaucht bin, desto klarer wurden mir verschiedene Zusammenhänge und Muster, die sich immer wiederholt haben.
Die Claudia ist ja so eine Mimose!
Das hat meine Tante Gerda immer zu mir gesagt, an die zahllosen Gelegenheiten kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich wusste damals gar nicht genau, was sie gemeint hat. Als ich dann meine erste Mimose gesehen habe und ihre empfindsame Reaktion auf die zartesten Berührungen beobachtet habe, war ich ganz verliebt. Meine Mutter war ein wenig robuster, sie nannte mich eine „empfindliche Piese“, was auch immer das ist, ich weiß es bis heute nicht.
Lege nicht jedes Wort auf die Goldwaage
Dann kam die Zeit, in der mir immer wieder empfohlen wurde, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, nicht aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen oder – ganz pragmatisch, nicht so empfindlich zu sein. Du musst dir ein dickeres Fell zulegen, das ist auch einer der Top-Tipps, die mich das ganze Leben begleitet haben. Nimm doch nicht alles so persönlich! – das fehlte noch in der Aufzählung.
Die Anderen und ich
Schon während meiner Schulzeit habe ich gemerkt, dass ich lieber die eine beste Freundin hatte und nicht so gerne in Cliquen unterwegs war. Musik ja, aber bitte nicht so laut. Konzerte? Nur Freiluft und dann bitte ganz hinten stehen, die Coolen waren da allerdings nicht zu finden.
Während der Studienzeit gab es dann die ganzen Partys, wenn ich mit Freundin war, war es auch prima. Oftmals haben sich mit anderen Gespräche ergeben, die dann immer recht schnell sehr intensiv geworden sind und ich konnte mir viele Lebensgeschichten, Beziehungsdramen und alle Problemen, die das studentische Leben so mit sich brachte, anhören. Solche Gespräche habe ich immer sehr geliebt, wenn ich mich weit weg von jeglichem Smalltalk ganz auf einen Menschen mit seinem Thema einlassen konnte.
Die schreckliche Party
Eine meiner unangenehmsten Erinnerungen, die aber bezeichnend für mich ist, war die Geburtstagsparty meiner Freundin Steffi, die zu einem kleinen Sit-in eingeladen hatte. Steffi und ich haben uns regelmäßig getroffen und immer viel zu erzählen gehabt, allerdings hatte ich keine Berührungspunkte zu ihren anderen Freundinnen und Freunden und so stand ich während der Party rum. Wahrscheinlich habe ich mich an irgendeinem Glas festgehalten und vielleicht auch ein wenig bedürftig ausgeschaut, denn ich bin in kein Gespräch gekommen, dass über kurze, oberflächliche Nettigkeiten hinausgegangen ist und je später der Abend wurde, desto unwohler habe ich mich gefühlt. Im Nachgang war meine Freundin Steffi richtig sauer auf mich, weil ich den ganzen Abend mit einer „Ätzfresse“ rumgestanden hätte, ohne mich einzubringen, das wäre ja wirklich nicht zu viel verlangt.
Ich habe gelernt.
Nach dieser gruseligen Party habe ich an mir gearbeitet. Wie benimmt man sich in Gesellschaft angemessen? Ich habe es mir abgeschaut. Was machen andere für kleine Gesten? Wann berühren sie sich im Gespräch flüchtig am Arm oder an der Schulter? Wen nimmt man wie in den Arm zur Begrüßung, um nicht aufzufallen? Was sind die besten Smalltalkthemen und wie kann ich an einem Gespräch teilnehmen, ohne dass ich die Leichtigkeit der Konversation nehme, weil ich es lieber tiefer habe?
Ich habe beobachtet und umgesetzt, was allerdings nicht dazu geführt hat, dass ich mich in Gruppen von mir unbekannten Menschen wohler gefühlt habe, ich habe mich angepasst und war deshalb auch immer froh, wenn ich solches geselliges Beisammensein zeitnah verlassen konnte.
Mein Mann und der letzte Drink
Später kam dann die Zeit der Opernbälle. Das fand ich interessant, so habe ich meinem Mann Tickets zu Weihnachten geschenkt. Der Opernball fand mit großem Tamtam statt, mit Ballkleid, Smoking, Friseurbesuch, langer Make-up Session, es wurde nichts dem Zufall überlassen.
So begann der Abend im Kreis von Freunden und dann begann die große Veranstaltung. Der Opernball begann um 19.00 Uhr und um ca. 21.30 Uhr habe ich meinem Mann ins Ohr geflüstert: „Ich muss weg“. Entsetzten im Freundeskreis; das kann sie doch nicht bringen! Es geht doch gerade erst richtig los! Und die besorgten Fragen: „Ist alles okay mit dir?“ „Geht es dir gut?“ Ja, es geht mir gut, es ist alles ok, es reicht mir einfach. Zu laut, zu viele Menschen, zu viele Gerüche, es ist genug für mich.
Mittlerweile ist das „Ich muss weg“ ein gängiger Code für mein dringendes Bedürfnis, die Location umgehend zu verlassen. Die ersten Male hat es endlose Diskussionen gebraucht, um klarzumachen, dass es okay ist, wenn mein Mann noch bleiben möchte und ich alleine gehe.
Es hat aber auch ewig gedauert, bis ich meinem Bedürfnis wirklich gefolgt bin und mich nicht bis zum Ende durch so einen Abend voller Lautstärke und Smalltalk gequält habe.
Das Kind hat endlich einen Namen!
Vor ca. 3 Jahren bin ich über das Thema „Hochsensibilität“ gestolpert und mir einem Mal hat sich alles zusammengefügt, was mir vorher an mir sonderbar vorgekommen ist. Ich empfinde anders, weil ich anders bin und ich kann es jetzt sogar benennen: hochsensibel. Ich bin nicht alleine, denn ca. 20 % meiner Mitmenschen fühlen auch anders und intensiver als andere Menschen. Was für eine Erleichterung, aus diesem diffusen Gefühl des „etwas stimmt nicht mit dir“ herauszutreten und ein Gefühl für das zu entwickeln, was mich schon mein ganzes Leben begleitet hat.
Was hat die Erkenntnis verändert?
- Zuzulassen, dass mich bestimmte Situationen besonders überfordern und zwar nicht, weil ich mich anstelle, sondern weil ich so bin.
- Meine Grenzen zu definieren und dabei auf mich und meine Bedürfnisse zu hören.
- Deutlich zu kommunizieren, wenn ich befürchte, dass meine Grenzen überschritten werden.
- Die schönen Seiten der Hochsensibilität zuzulassen, das Intensive, das Tiefe.
- Meine Gefühle und Reaktionen besser einordnen zu können.
Wie geht man denn mit einer hochsensiblen Person um?
Hier kann ich nur für mich sprechen, denn es gibt nicht „die“ hochsensible Person, sondern auch hier gibt es Varianten, die so individuell sind, wie die Menschen.
Stehe zu mir, aber bitte nicht hinter mir! Das ist der Satz, der es für mich vorläufig auf den Punkt bringt.
Wenn Du hinter mir stehst, während ich am Schreibtisch arbeite und womöglich deine Hand auf meiner Stuhllehne ablegst, dann erstarre ich, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und spüre deine Gegenwart meinen ganzen Rücken hinunterkribbeln, allerdings auf die unangenehme Art. Also begib dich bitte auf Augenhöhe zu mir, direkt in mein Gesichtsfeld, damit wir uns austauschen können.
Wenn du etwas an mir kritisieren möchtest, dann sei konstruktiv und gib mir das Gefühl, dass du wirklich an meiner Entwicklung interessiert bist, dann kann ich diese Kritik auch annehmen. Gib mir Zeit zum Nachdenken und Einordnen, sei gewiss, dass ich das tun werde, vielleicht viel gründlicher, als du dir es vorstellst. Ich kenne eigentlich kaum dahergesagte Sätze, denn ich suche immer den tieferen Sinn.
Sonst sei, wie du bist und lasse deinem hochsensiblen Gegenüber genug Raum zum Nachdenken und Nachspüren. Lass dich vielleicht mitnehmen auf eine Reise in ein dir vielleicht nicht so vertrautes Terrain, du wirst viele neue Schätze entdecken!
[…] Wie es ist, hochsensibel zu sein, ohne zu wissen, dass man hochsensibel ist. […]